Exklusive Analyse: Ministerin Reiche setzt auf eine gewagte Wette beim Strombedarf, die Gas- und Kohlekraftwerken Profite sichert, während Verbraucher in eine Kostenfalle tappen. Ein kritischer Blick auf die Pläne und die ignorierten Einsparpotenziale.
Die Energiewende in Deutschland steht vor einem Scheideweg, und die entscheidende Weiche wird ausgerechnet mit einer einzelnen, politisch festgesetzten Zahl gestellt: der Prognose für den zukünftigen Strombedarf. Im Zentrum der Kritik steht Ministerin Katharina Reiche, deren Kurs – so die Analyse des Experten Dr. Andreas Schmitz – auf einer riskanten Fehleinschätzung beruht. Anstatt den Netzausbau zügig voranzutreiben, steuert Reiche auf eine Drosselung hin. Die Konsequenzen könnten Milliarden kosten und die Klimaziele gefährden.
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Die Wette um unsere Zukunft: Eine Zahl entscheidet
Die Annahmen über den künftigen Stromverbrauch sind die Grundlage für den Netzentwicklungsplan (NEP). Ministerin Reiche hat öffentlich die These vertreten, dass die bisherigen Annahmen von 750 Terawattstunden (TWh) für 2030 zu hoch gegriffen seien, und setzt stattdessen auf eine deutlich konservativere Schätzung von nur rund 600 TWh.
Diese Zahl ist jedoch alles andere als ein Fakt. Der von Reiche selbst in Auftrag gegebene Energiewendemonitoring-Bericht zeigt eine enorme Bandbreite möglicher Szenarien auf:
- 2030: Die Schätzungen reichen von 520 TWh bis fast 900 TWh.
- 2035: Die Spanne liegt sogar zwischen 640 TWh und 1.100 TWh.
Reiches 600 TWh liegen damit im unteren Bereich des wissenschaftlich abgedeckten Spektrums. Die Brisanz: Während die Ministerin von der Notwendigkeit spricht, den Netzausbau anzupassen (sprich: zu drosseln), widerspricht ihr ein Experte aus ihrem eigenen Monitoring-Team auf derselben Bühne, der „kein unmittelbarer Anpassungsbedarf“ sieht. Gleichzeitig warnen Berichte der Bundesnetzagentur davor, dass ohne zügigen Ausbau Engpässe und Importgrenzen drohen.
Das Milliarden-Geschäft mit dem Engpass
Die Verzögerung des Netzausbaus zwischen dem windreichen Norden und dem energiehungrigen Süden generiert massive Zusatzkosten, die über die Netzentgelte direkt bei den Verbrauchern landen.
Der Mechanismus dahinter ist das sogenannte Redispatch: Wenn die Leitungen überlastet sind, muss der günstige Windstrom im Norden abgeregelt werden, während im Süden teure Gas- und Kohlekraftwerke hochfahren, um die Versorgung zu gewährleisten.
- Aktuelle Kosten: Die Ausgaben für Redispatch belaufen sich bereits auf 3 bis 4 Milliarden Euro pro Jahr.
- Kosten-Prognose: Der Monitoring-Bericht prognostiziert eine nahezu Verdopplung dieses Volumens, sollten die Netze nicht rechtzeitig ausgebaut werden.
Die direkten Profiteure dieser systemischen Engpässe sind die Betreiber der fossilen Kraftwerke im Süden. Die Drosselung des Netzausbaus sichert ihnen somit ein zusätzliches, milliardenschweres Geschäftsfeld – finanziert durch die Stromrechnung der Bürger.
Die fatalen Konsequenzen der Drosselung
Die Unterschätzung des Bedarfs ist nicht nur eine technische, sondern eine hochpolitische Entscheidung mit weitreichenden Folgen:
- Deaktivierung der Klimaziele: Ministerin Reiche hält zwar am Ziel fest, bis 2030 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Quellen zu decken. Doch das Ziel wird durch die niedrige Bedarfszahl entwertet: 80 Prozent von 600 TWh sind eine deutlich geringere absolute Menge an benötigter grüner Energie als 80 Prozent von 900 TWh. Mit der Manipulation des Nenners wird das Ziel faktisch relativiert.
- Die Kostenfalle des Unterausbaus: Wenn der tatsächliche Strombedarf durch den Hochlauf von E-Mobilität, Wärmepumpen, Wasserstoff-Elektrolyse und KI-Rechenzentren doch deutlich höher liegt als die angesetzten 600 TWh, drohen der Gesellschaft immense sozioökonomische Kosten. Die Geschichte zeigt, dass ein unterdimensioniertes Netz deutlich höhere Folgekosten verursacht als ein leicht überdimensioniertes. Die unzureichende Planung aufgrund des niedrigen Bedarfs wird über teure Kraftwerksreserven und hohe Netzentgelte an die Bürger weitergereicht.
Ignorierte Milliarden-Einsparungen
Besonders brisant: Der von der Ministerin in Auftrag gegebene Realitätscheck listet selbst konkrete Maßnahmen auf, die den Netzausbau um Milliarden Euro entlasten könnten, diese aber bislang ignoriert werden. Angesichts der Kostensteigerung des Netzentwicklungsplans von 320 auf 440 Milliarden Euro sind diese Vorschläge existenzrelevant:
| Maßnahme | Geschätztes Einsparpotenzial | Hintergrund |
| Küsten-Offshoreanbindung | 50 Milliarden Euro | Anstatt teure HGÜ-Trassen quer durch das Land zu bauen, sollte Offshore-Windstrom direkt an der Küste angedockt und dort z. B. in Wasserstoff umgewandelt werden. |
| Intelligente Flexibilität | 20-30 % der Kosten (Verteilnetz) | Durch die smarte Nutzung von PV-Speichern, bidirektionalem Laden von E-Auto-Akkus und intelligentem Netzmonitoring (zur Erhöhung der Auslastung bestehender Kabel) könnten im Verteilnetz hunderte Millionen bis Milliarden gespart werden. |
Das Problem liegt hier oft nicht in der fehlenden Hardware, sondern in der fehlenden „Software“ – den politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen, die solche Marktmechanismen und Flexibilitäten ermöglichen müssten.
Die Gasnetz-Falle: Ein teurer Irrweg
Die Pläne, die Gasnetze für späteres „defossilisiertes Gas“ (Wasserstoff oder Synthesegas) zu erhalten, werden als ökonomisch unhaltbar kritisiert.
Unwirtschaftlichkeit von Wasserstoff: Grüner Wasserstoff ist, bezogen auf die Wärmeerzeugung, fünfmal so stromintensiv wie eine direkte Nutzung des Stroms durch eine Wärmepumpe. Zudem sind die bestehenden Gasnetze weder für die Übertragung der nötigen großen Volumen Wasserstoff ausgelegt noch ausreichend dicht. Studien belegen klar, dass die Wärmeversorgung im Gebäudebereich zu 60–70 Prozent über die effizienteste und günstigste Lösung – die Wärmepumpe – erfolgen wird.
Kostenfalle für Verbraucher: Sinkt der Gasverbrauch aufgrund der Wärmewende, aber das Netz muss erhalten werden, müssen die Kosten auf immer weniger verbleibende Gaskunden umgelegt werden. Dies führt zu explodierenden Netzentgelten und treibt die verbleibenden Haushalte in eine teure Kostenfalle. Letztlich profitieren von dieser Unsicherheit nur die Gasindustrie, die so den Verkauf ihrer Produkte kurzfristig verlängern kann.
Eine Frage der Perspektive: Was die Vita verrät
Die zentrale Frage, ob Ministerin Reiche „gekauft“ sei, verneint Schmitz entschieden, da hierfür keinerlei Belege vorliegen. Die Erklärung für die kritisierten Entscheidungen findet er jedoch in ihrem Werdegang, der eine tiefe Prägung durch die „alte Energiewelt“ erkennen lässt:
- Reiche war Staatssekretärin im Umweltministerium und wechselte dann zum VKU (Verband kommunaler Unternehmen), einem Lobbyverband großer Energieversorger.
- Anschließend wurde sie Vorstandsvorsitzende der EON-Tochter Westenergie, einem im Gasbereich tätigen Unternehmen.
Wer seine Karriere in diesem Umfeld verbringt, sieht die Welt zwangsläufig durch diese Brille. Diese Perspektive mache ihre Entscheidungen menschlich nachvollziehbar, aber umso kritikwürdiger, da sie nicht mehr den Anforderungen der schnellen Energiewende entspreche.
Schlussappell: Bürger in der Pflicht
Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass hier nicht nur um Zahlen, sondern um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die finanzielle Belastung der Haushalte gerungen wird.
Die Ministerin sollte die Chance zum Umdenken erhalten, doch dies erfordere fairen, aber unnachgiebigen Druck aus der Zivilgesellschaft. Schmitz appelliert an die Bürger, ihre Abgeordneten und Behörden mit den konkreten Fakten – den Zahlen, den Szenarien, den ignorierten Einsparpotenzialen – zu konfrontieren und Nachweise für die getroffenen Entscheidungen zu fordern. Denn letztlich, so das Fazit, „muss sich Berlin vor euch rechtfertigen, nicht umgekehrt“.
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