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Wo Energiekrise ein Fremdwort ist

Fernwärme wegweisend: Das „Woringer Modell“

Von Louis Schnabl, IKBT Düsseldorf – 13.08.2024 – Lesezeit ca. 13 Minuten 506

Fernwärme wegweisend: Das „Woringer Modell“

v.l.n.r. Andreas Karrer, Andreas Brauchle, Christian Hölzle, Bgm. Jochen Lutz, Karl Depperich, Volker Müller, Johannes Stephan

Viele große Dinge entstehen aus kleinen Anfängen. Die Grundlagen in Woringen: die richtige gute Mischung aus Bodenständigkeit und Weitsicht. Aus guter Nachbarschaft und Mut zum Schaffen. Aus Vision und der Lust anzupacken. Aus regionaler Landwirtschaft und Ingenieurwissen.

Woringen im Unterallgäu muss man nicht unbedingt kennen. Was man aber als Bürgermeister, Kommunalpolitiker oder Verantwortlicher für die kommunale Energieversorgung kennen sollte, ist das „Woringer Modell“. Die erfolgreiche Transformation der energetischen Infrastruktur in eine umfassende Fernwärmeversorgung, die Woringen in punkto Wärmeversorgung praktisch energieautark macht.

Aus Erfahrung top

Am Anfang stand die Freundschaft zwischen Jochen Lutz, heute erster Bürgermeister von Woringen, und Andreas Karrer, Landwirt und Betreiber einer Biogas-Anlage. Was heute praktisch flächendeckend in Woringen funktioniert, begann vor fast zwei Jahrzehnten damit, dass Lutz Abwärme aus der Biogasanlage seines Nachbarn Karrer für sein Haus nutzbar machte.
Lutz, damals Leiter der mechanischen Werkstatt eines großen Industrieunternehmens, sah auch sein Privathaus mit den Augen eines Fachmanns für Sanierung. Lutz: „Schon privat hat das top funktioniert!“ Und es lieferte Jahre später die Blaupause für ein kommunalpolitisches Vorzeigeprojekt, das weit und breit seinesgleichen sucht. Lutz, ein „konstruktiv-hemdsärmeliger Typ“, war bereits 2008 für eine große Mehrheit seiner Mitbürger die richtige Wahl als Gemeinderat, 2014 wurde er dann von diesem Gremium zum zweiten Bürgermeister und 2020 von den Woringern zum ersten Bürgermeister gewählt.
Als 2011/12 die Sanierung der Schule anstand, die gemäß ENEV-Standard energetisch zu ertüchtigen war, und entsprechende Fördermittel frei wurden, wurde die persönliche Fernwärmeerfahrung von Lutz gleichzeitig auch der Start zu einer grundlegenden Neuausrichtung in Sachen Energieversorgung Woringen.

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Kräfte bündeln. Gemeinsam machen statt reden

Treibende Kraft für dieses Zukunftsprojekt, nach durchaus erheblichen Widerständen und intensiven Diskussionen im Gemeinderat, waren Bürgermeister Jochen Lutz und Biogas-Bauer Andreas Karrer. „Wir hatten hier die Chance“, so Lutz, „wegweisend Zukunft für die Versorgungssicherheit unserer Gemeinde zu gestalten.“ Wie weitblickend das in der Rückschau war, sollte sich in der Gaskrise 2021 zeigen.
Die Fakten: Der Gemeinderat stimmte dem Projekt mit deutlicher Mehrheit zu. Am 12. August 2011 wurde die WVW Wärmeversorgung Woringen GmbH, Geschäftsführer Volker Müller, gegründet und begleitend dazu für die Praxisarbeit das „Energieteam Woringen“ – drei Vertreter des Gemeinderats und zwei Mitarbeiter des Bauhofs – etabliert. Alle Schwierigkeiten wurden gemeinsam gemeistert. Viele wichtige und richtige Entscheidungen vor Ort gemeinsam getroffen.

2011 – der erste Bauabschnitt

Im Zusammenhang mit der energetischen Schulsanierung war also die „WVW Wärmeversorgung Woringen GmbH“ angetreten mit dem Ziel, möglichst die Versorgung des ganzen Dorfes mit Fernwärme zu organisieren.
Seit 2011 lief der erste Bauabschnitt. Woringen startete zunächst mit einem „kleinen Netz“, dem sich fürs Erste neben der Schule das Rathaus, das Haus der Begegnung, die örtliche Raiffeisenbank, das Wirtshaus Adler und ein paar private Hausbesitzer anschlossen. Das war natürlich noch nicht wirtschaftlich, aber die Idee begeisterte. Ein Geschäft und ein Bürger nach dem anderen entschieden, sich nach der „Schnupperzeit“ an die bequeme Fernwärme anschließen zu lassen. Dabei sind die größten Abnehmer oft am weitesten weg – im Gewerbegebiet und an den Dorfrändern. Neben der Sicherheit in der Versorgung sorgt die Nähe des lokalen Energiemanagements auch für eine extrem hohe Flexibilität. Wird bei industriellen Abnehmern weniger produziert, wird das System einfach niedriger gefahren und individuell nachjustiert – Anruf genügt.

2015 – neues Heizhaus geht in Betrieb

2015/16 ging der zweite Bauabschnitt „Nord“ ans Netz. Parallel dazu wurde die neue Heizzentrale über den „alten“ Heizzentralenschacht gebaut. Hier befindet sich neben einem 65 m³ Energiespeicher die ganze Leittechnik, Heizverteilung und ein Spitzenlastgaskessel mit einer Leistung von 560 kW. 2017 folgte der Bauabschnitt „Ost – Gewerbe“.
Der Hauptenergielieferant für das Fernwärmenetz ist nach wie vor die Biogasanlage Karrer. Vom Standort in der Bahnhof-Einöde wurde von Karrer eine 2,4 km lange Biogasleitung zum ebenfalls von ihm errichteten Motorenhaus verlegt. Hier werden von vier Biogas-Blockheizkraftwerken das Biogas und in einem Spitzenlast-Erdgas-BHKW das Erdgas in elektrischen Strom und Wärmeenergie umgewandelt. Die komplette Anlage wird von der Firma Karrer ausschließlich wärmegeführt betrieben. Mit den zusätzlich errichteten Wärmespeichern mit 260 und 500 m³ wurde und wird sichergestellt, dass keine einzige kWh Wärmeenergie vergeudet wird. Bemerkenswert: Andreas Karrer ging in diesem Projekt mit nahezu 6 Mio. Invest in das persönliche Risiko.

Gaskrise – Versorgung auf „Nummer Sicher“

2021 kam dann der Ukraine-Krieg und in seinem Gefolge die Gaskrise. Ganz Deutschland hatte Angst vor höheren Gaspreisen und den Versorgungsproblemen. In Woringen konnte man ganz gelassen sein, denn da hatte man die Gasversorgung selbst in der Hand. Doch da es nie ganz auszuschließen war, dass die lokale Biogaserzeugung nicht ausreichen könnte – die Winter können schließlich hart sein im Voralpenland – und die für Spitzenbelastungen vorgesehenen Einspeisungen des regionalen Energieversorgers Schwaben Energie im schlimmsten Fall hätten ausfallen können, entschlossen sich Bürgermeister Lutz und der Gemeinderat, auf Nummer Sicher zu gehen.

Flexibles Energiemanagement - Vertrauen ist alles

Wärme aus dem Container – zur Miete oder zum Kauf – ist die Lösung, auf die sich „MOBILE ENERGY“ spezialisiert hat, die Sparte für flexibles Energiemanagement der Alois-Müller-Gruppe. Sie stellte auch in Woringen eine mobile Energiezentrale für eine Pelletheizung mit einer Leistung von 330 kW auf. Später kam ein zweiter Container dazu. Beide dienen als „Sicherheitspuffer“ zur Absicherung der Wärmeversorgung im Falle eines Ausfalls der Biogas-Anlage oder als Ergänzung bei einem hohen Mehrbedarf an Wärme. Mit einer Gesamtleistung aller Energieerzeuger von bis zu 2.750 kW ist das Wärmenetz damit abgesichert.

„Entscheidend ist“, so Lutz, „dass man sich auf seine Partner unbedingt verlassen kann. Ich stehe ja schließlich im Wort bei meinen Bürgern. Dazu ist zwingend notwendig, dass alle Beteiligten verantwortlich handeln und alle Schwierigkeiten gemeinsam meistern. Und da reichte und reicht mit Andreas Müller der Handschlag vor Ort. Die gelben Container von Müller signalisieren unseren Bürgern: Die Woringer Energieversorgung ist gesichert.“

Die Bürger – überzeugen, nicht überreden

Auch hier ist Woringen „anders“. Als es ab 2011 darum ging, die Woringer über das Fernwärmenetz zu informieren und für den Anschluss zu werben, gingen Bürgermeister Lutz und das Energieteam der WVW persönlich von Haustür zu Haustür. Als „Überzeugungstäter“ sprachen sie mit rund 80 % der potentiellen Kunden, zeigten klar Chancen und Risiken auf. Angebote zum Netz gab es nur auf Anforderung. Dennoch oder auch gerade deshalb war die Resonanz riesig. Auch von Nutzern, die am Anfang noch richtig blockiert hatten, kam es häufig zu Abschlüssen aus Überzeugung. Aktuell sind es schon 411 der 635 Haushalte angeschlossen.

2021 die „schwarze Null“

Mit ca. 40 % Auslastung am Anfang und einer permanent steigenden Zahl an Anschlüssen waren wir 2020 zwar noch in den roten Zahlen“, so WVW-Geschäftsführer Volker Müller. „Für 2021 erreichten wir erstmals die schwarze Null. Ab 2022 sind wir bei einer Auslastung von ca. 80% der Versorgung auch wirtschaftlich im grünen Bereich, schreiben schwarze Zahlen. Eine nachhaltige Entscheidung also - die Gemeinde trägt das Risiko ja zu 100 % - bleibt dafür aber auch alleiniger Eigentümer. Investiert haben wir bisher übrigens fast 10.000.000 €. Die Energie aus dem eigenen Fernwärmenetz bleibt bezahlbar, egal was kommt. Wir sind weitgehend unabhängig von Energiekonzernen, Marktpreisen und politischen Entwicklungen.“

Die Mehrwert-Partner im „System Woringen“

Für die technische Umsetzung kam ein weiterer Akteur ins Boot, der nur zwölf Kilometer entfernt mit der „green factory“ selber das größte nahezu energieautarke Büro und Produktionsgebäude der Welt betreibt: Andreas Müller, Inhaber der Alois-Müller-Gruppe in Ungerhausen/Unterallgäu. Die Alois-Müller-Gruppe begann 1973 als traditioneller SHK-Familienbetrieb. Ein inhabergeführtes Familienunternehmen ist es geblieben. Aber aus dem SHK-Handwerk hat Müller ein mittelständisches Technologie-Unternehmen geformt, das seine Kompetenz auf Energie- und Gebäudetechnik (Heizung, Lüftung, Sanitär, Kälte, Elektro) ebenso erweitert hat wie auf den industriellen Anlagenbau. So stellte Müller MOBILE ENERGY, Bereich Rohrleitungsbau, die komplette Infrastruktur „Rohr“ sicher, den entscheidenden Langzeitfaktor zum Betrieb für Fernwärme. Mit Erfolg: Woringen kann melden: bisher keine einzige undichte Stelle.
Geplant wurde das „Projekt Fernwärme Woringen“ von der Alois-Müller-Tochtergesellschaft e-con AG, die sich im Einsatz für erneuerbare Energien als der Partner für die Energiewende versteht. Für Kunden aus Kommunen, Industrie und Gewerbe ent-wickelt sie CO₂-neutrale Energiekonzepte sowie nachhaltige und hocheffiziente Wärmeversorgungen, die Ressourcen schonen und Energiekosten optimieren.

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